Dienstag, 30. Juni 2009

Es war einmal vor langer Zeit… - Mit Fiktion einen Fakt beeinflussen oder mit Fiktion die Welt erklären

Erzählt man ein Märchen, macht man meist immer zu Beginn deutlich, dass die Geschichte nicht im Hier und Jetzt statt findet, sondern in einer längst vergangenen Zeit. Der Erzähler katapultiert den Zuhörer also direkt in eine Fiktion. In den meisten Fällen sind diese Zuhörer Kinder. Aber warum sind Märchen eigentlich so wichtig für die reale Welt des Kindes?
Die psychologischen Probleme des Kindes sind als ein Fakt bekannt. Das Erwerben des Selbstbewusstseins, des Selbstwertgefühls und des Pflichtbewusstseins sind hier die wesentlichen Punkte. Das Märchen greift diese Probleme auf und verpackt sie in Symbole, bettet sie also in eine Fiktion ein. So werden die Elemente der Geschichte von der Phantasie des Kindes durchgearbeitet und das Bewusstsein des Kindes wird nicht überschwemmt.
Märchen sind suggestiv und das Kind denkt animistisch. Realistische Erläuterungen wären unverständlich. Das Märchen gibt Antworten, die für das Kind verständlicher sind. Wird das Kind älter erkennt es die Symbolik. Die Fiktion füllt also die Lücken im Verständnis. Sie dient als eine Art Ventil.
Die Fiktion beeinflusst also einen Fakt. Das Märchen ist die Fiktion. Als ein Fakt bleiben die Entwicklung der Verstandeskraft und die Klärung von Emotionen beim Kind zurück.
Ein Beispiel:
„Die drei Federn“
Das jüngste Kind in diesem Märchen ist ein Dümmling. Das Kind in der realen Welt fühlt sich oft dumm und überfordert bei der Konfrontation mit der Komplexität seiner Umwelt. Das Märchen erläutert dabei aber nie, warum eine Figur für dumm gehalten wird, somit werden keine Schuldgefühle beim Kind ausgelöst. „Dumm“ ist in diesem Fall der undifferenzierte Existenzzustand und der Kampf zwischen Es, Ich und Über-Ich. Der Ausgang des Märchens zeigt das Übertrumpfen des „dummen“ Kindes und gibt somit dem Kind in der realen Welt Zuversicht und stärkt sein Selbstwertgefühl.
Am Ende des Märchens wird der Leser oder Zuhörer immer wieder in die Wirklichkeit zurück geholt, bleibt nicht in der Fiktion zurück, sondern kann mit den Erkenntnissen als ein Fakt umgehen. „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.“

Quelle:
Bettelheim, Bruno, Kinder brauchen Märchen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag^28 2008.

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